Was wir lernen
Drei Monate
Eine politische Büroklammer hätte man mich in meiner früheren Funktion wohl nennen können. Ich kannte das politische Geschäft in der Hauptstadt bereits. Aber vor allem aus der zweiten Reihe, als Beamter und Berater. Dann ging der Wahlkampf als Bundestagskandidat los.
Drei Monate ist das Ende des Wahlkampfs her, vor drei Monaten haben wir gewählt. Vor gerade einmal drei Monaten. Kaum zu glauben, was seitdem schon alles passiert ist. (Ein paar Beobachtungen dazu habe ich an anderer Stelle aufgeschrieben.) Hier möchte ich die Gelegenheit für einige Gedanken dazu nutzen, was ich im Wahlkampf gelernt habe, denn dies begleitet und leitet mich weiterhin:
Wir müssen uns nicht immer einig sein, damit Demokratie funktioniert. Meine Gespräche auf den Straßen oder an den Haustüren waren für mich (und hoffentlich auch mein Gegenüber) nicht nur gewinnbringend, wenn wir einer Meinung waren. Viele Gespräche endeten: „danke fürs Zuhören“ oder „trotzdem gut, dass wir darüber gesprochen haben“. Und so blieb ein Gefühl der Verbundenheit – trotz unterschiedlicher Ansichten.
Eine gute Diskussion ist eine, die um Lösungen ringt. Häufig kamen nach Podiumsdiskussionen Menschen auf mich zu und bedankten sich dafür, dass eine Debatte unter demokratischen Kräften möglich ist und dabei der Ton und Inhalt lösungsorientiert bleiben.
Die Menschen wollen selbst machen. Sie sind nicht auf die Politik angewiesen, häufig braucht es gerade weniger Politik. Und vor allem weniger Bürokratie. Die Menschen engagieren sich, vor allem in unserer Region tragen viele ein Verantwortungs-Gen in sich – in Hilfsdiensten, Tafeln, Sportvereinen. Aber auch in der Wirtschaft: Viele Unternehmen investieren aus eigenem Interesse in nachhaltige Lösungen und möchten ihre Mitarbeiter gut bezahlen – in der Logistik, Landwirtschaft, Industrie.
Wir haben allen Grund zu Optimismus. Das beste Mittel gegen Pessimismus nach der Lektüre der ersten Seiten der Tageszeitung war und ist für mich das Gespräch bei uns in der Heimat. Denn die Botschaft ist meist: Wir machen einfach weiter – und können so Stück für Stück im Kleinen anfangen, die Dinge zum Besseren wenden.
Wir brauchen eine Politik, die den Bürgern auch schlechte Nachrichten zutraut. Manchmal schafft gerade das Vertrauen. Schönrednerei führt häufig zum Gegenteil. Viele Menschen befassen sich intensiv mit dem politischen Geschehen. Sie verlangen zu recht, dass die Politik aufrichtig mit ihnen umgeht.
Ich habe mir vorgenommen, diese Lehren auch in meine weitere politische Tätigkeit einfließen zu lassen, sowohl im Wahlkreis als auch im Parlament. Seit dieser Woche stehen die Ausschüsse fest, in denen ein Großteil meiner parlamentarischen und fachlichen Arbeit stattfinden wird:
Als ordentliches Mitglied gehöre ich dem Rechts- sowie dem Verkehrsausschuss an, als stellvertretendes Mitglied darf ich im Europa-, Entwicklungs- und Haushaltsausschuss mitwirken.
75 Jahre
Dieser Tage kommt es wieder einmal besonders auf die europäische Geschlossenheit an: gegenüber Trump (da hilft nur: es trotz aller Enttäuschungen und ohne Erwartungen dennoch immer wieder probieren) und in Sachen Zölle, im Hinblick auf die russische Aggression und die Ukraine.
Den europäischen Kern bilden die deutsch-französischen Beziehungen. Bundeskanzler Merz hat bereits vor Amtsantritt eine vertrauensvolle Beziehung zum französischen Präsidenten Macron aufgebaut. In der gestrigen Debatte im Bundestag habe ich das sehr begrüßt.
Am heutigen Tag hat der Bundestag auch aus Anlass von 75 Jahren Europarat debattiert: Eine Erinnerung daran, dass Europa über die EU hinausreicht, geografisch wie kulturell, und wir auch diese Beziehungen und die Errungenschaften im weiteren europäischen Sinn fortan pflegen müssen.
76 Jahre
Europäische Einigung und deutsche Demokratie gehen Hand in Hand. Heute feiern wir den Tag des Grundgesetzes. Diese Demokratie ist nicht selbstverständlich. Vier Jahre lagen zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vor 80 Jahren, und dem Beginn der Bundesrepublik.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde) Das galt damals, das gilt heute. Es kam auf die Menschen an, auf die Mütter und Väter des Grundgesetzes. Dazu empfehle ich als Lektüre: Christian Bommarius, Das Grundgesetz: Eine Biographie. Die Schlussfolgerung drängt sich auf: Heute kommt es auf uns alle an.
Weiter, immer weiter
Aus diesen Rückblicken entsteht auch ein Blick nach vorne. In diesem Blick trübt nach meiner Meinung seit einigen Monaten eine Formel das Bild, die so oder so ähnlich häufig im öffentlichen Diskurs erscheint: Das (also die aktuelle Regierungskoalition) sei nun „der letzte Schuss“ der demokratischen Mitte. Ansonsten regierten in ein paar Jahren Populisten.
Ich gebe zu: Zu Beginn des Bundestagswahlkampfs habe ich Ähnliches auch einmal ausgesprochen. Weil es einen Handlungsdruck aufbaut, der ja auch tatsächlich besteht. Dennoch halte ich diesen Ansatz für wenig hilfreich, sogar für gefährlich.
„Der letzte Schuss“ vermittelt eine Unvermeidbarkeit (wenn nicht, dann…), die der Demokratie fremd ist und bleiben sollte. Wir brauchen immer neue Debatten. Und viele Fortschritte müssen hart errungen werden. So war es in der Vergangenheit, so wird es bleiben. Gerade deswegen funktioniert sie am Ende doch, die Demokratie. Weil sie den Absolutismus nicht zulässt.
„Der letzte Schuss“ überlässt anderen die Definitionshoheit darüber, was der letzte Schuss eigentlich ist und ob er ins Ziel getroffen hat.
„Der letzte Schuss“ baut potentiell eine sich selbst bewahrheitende Prophezeiung. Und dann ist niemandem mit der Ausrede geholfen, man habe es doch kommen sehen.
„Der letzte Schuss“ ist geprägt von einem Defätismus, den ich einfach nicht bereit bin zu akzeptieren. Ich halte es mit Olli Kahn: „weiter, immer weiter“.
Weiter II
„Weiter“ bedeutet auch, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Und dort von ihr Abstand zu nehmen, wo es nötig ist. In diesem Zusammenhang sind die öffentlichen Äußerungen der früheren Bundeskanzlerin in den vergangenen Wochen und Monaten für mich persönlich eine Enttäuschung. Soweit man von einer Person enttäuscht sein kann, die man nicht persönlich kennt.
Aber Merkel stand als Bundeskanzlerin in meiner Wahrnehmung lange Zeit eben auch für Selbstreflektion und persönliche Uneitelkeit. Nicht nur dieses Bild ihrer politischen Person ist durch ihre teils unnötigen Äußerungen der jüngeren Vergangenheit stark in Mitleidenschaft gezogen.
Auch in der Sache finde ich viele Aussagen schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar. Man mag davon überzeugt sein, in der jeweiligen Situation nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen getroffen zu haben. Wenn aber das jeweilige Ergebnis nicht stimmt, ist es befremdlich, wenn man darauf beharrt, man habe keine Fehler gemacht. Die Resultate im Hinblick auf die Ukraine, die Abhängigkeit von russischem Gas sowie die irreguläre Migration sprechen jedenfalls für sich. Damit einen reflektierten, selbstkritischen Umgang zu pflegen, wäre dem konstruktiven Blick auf die Vergangenheit wie in die Zukunft allemal zuträglicher.
Bild: Zeichnung von Heba und Arlinda vom Erzbischöflichen Berufskolleg Neuss. Teilnahme am 72. Europäischen Wettbewerb.